Um es gleich vorweg zu nehmen: Wir bei Ikigaido Karate sind keine Gegner des heutigen Graduierungssystems des Karate. Es macht aus unserer Sicht aber durchaus Sinn, die Vor- und Nachteile zu kennen und zu reflektieren, um einen bewussten Umgang mit den Gurt-Prüfungen zu ermöglichen. Sei es für sich selbst oder als Vater oder Mutter eines Karate-Kids.
«Gurt bedeutet nicht brauchen Schnur für Hose»
Im okinawaischen Königreich, dem Geburtsort des Karate, kannte man weder farbige Gurte noch formale Graduierungen. Damals war das Hauptziel des Trainings die Erlangung von Wissen. Manchmal das Erlernen eines Berufes, um als Leibwächter der herrschenden Adligenklasse arbeiten zu können. Es gab aber keine formellen Ränge. Der Gurt hatte lediglich die sinnvolle Aufgabe, die Hose nicht rutschen zu lassen, wie auch Meister Miyagi daher trefflich in Film «Karate Kid» von 1984 lehrt:
Daniel: Mr. Miyagi, was für einen Gurt haben Sie?
Mr. Miyagi: Leinen. J.C. Penney. $3.98. Du mögen?
Daniel (lacht): Nein, ich meine …
Mr. Miyagi: In Okinawa, Gurt bedeutet nicht brauchen Schnur um Hose zu halten hoch. Daniel-san, Karate hier. [tippt auf seine Stirn] Karate hier. [tippt auf sein Herz] Karate niemals hier. [zeigt auf seinen Gurt] Verstehen?
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts änderten sich die Dinge. Zu dieser Zeit verbreitete sich Karate von Okinawa auf das japanische Festland. Die Karatemeister jener Zeit waren sehr engagiert, ihre Kunst dem japanischen Geschmack anzupassen. Heute würde man das wohl «Branding» oder «Marketing» nennen. Gichin Funakoshi, der Begründer des Shotokan-Karate, erörtert einige dieser Anpassungen in seinem Buch «Karate-do, Mein WEG«. Dazu gehören die Übernahme des Begriffs «Karate» und die Einführung neuer Begriffe für Techniken und Kata. Zudem war er durch den japanischen Nationalismus Anfang des 20. Jahrhunderts gezwungen, Schreibweisen und Namen der Formen und Techniken zu „japanisieren“. Übrigens erntete Funakoshi für seine Modifikationen nicht nur Applaus. Die okinawaischen Meister sparten nicht mit Kritik. Verständlich.
Einführung von Gi und Gurtsystem: Copy & Paste
Das heutige Gürtel-Ranglistensystem ist eine Erfindung des Judo-Begründers Jigoro Kano, der die brutale Schlachtfeldkunst des japanischen Jiu-Jitsu stark anpasste, um sie als ungefährlichen Sport in den Unterricht der Grund- und Hochschulen einführen zu können.
Um 1922 übernahm Gichin Funakoshi für sein Karatetraining die Keikogi-Uniform, die Kano für das Judo entwickelte, auch Dogi oder kurz Gi genannt. Funakoshi übernahm auch das Judo-Gürtel-Ranglistensystem, das von der japanischen Kampfsportvereinigung (Butokukai) institutionalisiert und formalisiert wurde. Funakoshi kopierte das Judo-Ranglistensystem also wörtlich in das Karate. Dieses frühe Karate-Gürtel-Ranglistensystem umfasste zunächst nur drei Gurtfarben (weiss, braun, schwarz) und wurde später erweitert.
Am 12. April 1924 verlieh Funakoshi sieben seiner Schüler den Rang des 1. Dan (Schwarzgurt ersten Grades). Fun Fact: Interessanterweise hatte Funakoshi zu der Zeit, als er seinen Schülern den Rang verlieh, weder im Karate noch in einem anderen Kampfkunstsystem selbst einen Gürtel-Rang, da es vor 1922 im Karate keine Ränge und Gürtel gab.
Gurt-Prüfungen: Fluch oder Segen?
Didaktische Vorteile bietet das Gurtsystem allemal. Dafür wurde es auch erfunden. Trainerinnen und Trainer erlaubt es, technische ähnliche Gruppen zu bilden, um Unterrichtseinheiten stufengerecht aufbauen zu können. Beispielsweise sind Blaugurte innerhalb einer Schule auf ähnlichem Niveau und können daher gemeinsam einfacher trainieren und gegenseitig profitieren.
Gerade Kindern kann das Gurtsystem als ein kurzweiliger Anreiz bieten. Karate als lebenslange Herausforderung steht im Kindesalter nicht im Vordergrund, sondern das Entdecken und Entwickeln der Bewegungsgrundformen und das Erlernen der vielseitigen Karate-Grundschule. Es hilft, klare Ziele vermitteln und Unterrichtsstoff als Motivation in Gurtfarben einteilen zu können. Daher durchaus ein Segen.
Als Fluch wirken hingegen Gurtprüfungen, wenn das Ziel über den Weg gestellt wird. In anderen Worten: Das eifrige Sammeln der Gurte, um schnellstmöglich einen hohen Gurt als Trophäe tragen zu können, um sich nach innen und aussen zu profilieren. Leider gibt es auch Schulen, die schnell Gurte verteilen, um mit vielen Prüfungen zusätzliche, finanzielle Einnahmen zu generieren – wovon sich natürlich seriöse Schulen distanzieren (dazu auch unser Artikel «Woran erkenne ich eine gute Karate-Schule?«). Man muss klar erkennen, dass die Gurtfarben wirklich nur Dojo-intern als grober Vergleichswert dienen können. Schon die Schule im Nachbardorf kann die Zulassungsbedingungen für einen Grad völlig anders gestalten – was erklärt, warum es sehr gute Anfänger und schlechte Fortgeschrittene gibt, ja leider auch viele Dan-Träger.
Wie wär’s mit pink?
Einige Menschen hängen ihr Selbstwertgefühl an ihren Karategürtel. Es ist ein unausweichlicher Teil der menschlichen Natur, zu gruppieren und die komplexe Welt in klare Schubladen zu unterteilen. Wir beurteilen uns gegenseitig (und uns selbst) oft automatisch aufgrund der Farbe unserer Gürtel. Aber diese Gewohnheit kann zu einer falschen Wahrnehmung der Realität führen. Daher hat Jesse Enkamp auf seinen Seminaren pinke Gürtel eingeführt. Jeder Teilnehmer trägt pink! Dadurch fühlen sie alle gleich und die stereotypen Klassifizierungen greifen nicht mehr. Übrigens gab es in der Vergangenheit bisher nur einen Teilnehmer, der sich geweigert hat, den pinken Gurt während des Seminars zu tragen – ein Schweizer (Name unbekannt)! 🙂
Zu guter Letzt …
Jedem Karateka sei geraten, die Gurtprüfungen und die damit verbundenen Ränge nicht über zu bewerten. Wie heisst es so schön: «Gras wächst nicht schneller, wenn man dran zieht». Karate ist ähnlich. In unserer kognitiv dominierten Instant-Welt scheint es schwierig, jahrelange Prozesse des Reifens auszuhalten oder gar geniessen zu können. Karate transformiert den Körper und das Bewusstsein, das braucht Zeit. Es ist schön und gut, wenn wir uns an kurzfristigen Erfolgen erfreuen können – und das sollten wir auch. Dabei verlieren wir aber nie das grosse Ganze aus den Augen: Lebenslang jeden Tag für uns selbst ein bisschen besser zu werden. Es lohnt sich, dran zu bleiben!
Sportliche Grüsse!
Stephan