Es war einmal …
Es war einmal auf der Insel Okinawa… Dort lebte ein friedlicher Bauer, der auf seinem Land arbeitete. Plötzlich erschien ein japanischer Samurai-Krieger. Glücklicherweise hatte der Bauer eine tödliche Kampfkunst entwickelt, die es ihm erlaubte, jeden Gegner mit seinen leeren Händen zu besiegen. Manchmal reichten seine Fäuste nicht aus. Dann setzte er seine Ackergeräte als Geheimwaffe ein – unglaublich.
Ehm, nein. Denn obwohl die Geschichte der unterdrückten okinawanischen Bauern romantisch klingt, ist sie leider nicht wahr, sondern nur ein Karate-Mythos.
Der historische Grund dieser Geschichte liegt im Jahre 1879 verborgen. Wir alle wissen, dass Okinawa der Geburtsort des Karate ist. Aber bevor es Okinawa hiess, war es als Ryukyu bekannt. Es war ein eigenes Königreich und deshalb ist es so einzigartig, weil es nicht mit dem japanischen Festland vergleichbar ist.
«Das Studieren der Kampfkunst war ein aristokratisches Vorrecht, für das im Königreich Ryukyu nur die oberen Klassen privilegiert waren. Dazu gehörten sowohl bewaffnete als auch unbewaffnete Kampfmethoden aus China. Doch alles änderte sich 1879, als Okinawa zu einer japanischen Präfektur und das alte Kastensystem abgeschafft wurde.»
Selbst das Schloss des Königs sieht völlig anders aus im Vergleich zu japanischen Schlössern. Tatsächlich sieht es viel chinesischer aus. Das liegt daran, dass die Okinawaner alles liebten, was aus China kam. Tatsächlich wurde China als so wichtig angesehen, dass der gesamte Adel der Oberschicht und die aristokratischen Familien ihren ganzen Tag damit verbrachten, alles zu studieren, was aus China kam. Sie gingen sogar nach China, um zu studieren. Dazu gehörten Literatur, Kalligraphie und Geschichte, Konfuzianismus und natürlich die Kampfkünste. Für sie war China das grösste.
Das Königreich Ryukyu hatte ein komplexes Klassensystem, das Menschen in unterschiedliche soziale Status teilte. Alle Karatemeister waren mindestens
sechs Stufen höher als der normale Landwirt oder Bauer. Die einzigen Menschen, die den Luxus hatten, Kampfkünste zu studieren, waren die der Oberschicht und der aristokratischer Adel. Sie waren jene, welche den Grundstein für das legten, was später als Karate und Kobudo bekannt werden sollte.
Die Steuern, die alle «niedrigeren» Menschen zahlten, wurden tatsächlich für die Bildung der Oberschicht verwendet. Das wiederum hat sie zu den Kampfkunst-Meistern werden lassen. Sie mussten ja auch nicht den ganzen Tag auf dem Feld arbeiten… Ein Bauer im Ryukyu-Königreich musste etwa 18 Stunden arbeiten – pro Tag, nur um diese Steuern zu zahlen und das Essen auf den Tisch zu bringen.
«Karate wurde NICHT von Bauern in Okinawa zur Verteidigung gegen japanische Samurai erfunden. Das gleiche gilt für Kobudo, die Kampfkunst der einfachen Bauernwaffen.»
Sie hatten weder die Zeit, die Fähigkeiten noch die wirtschaftlichen Mittel, irgendwelche Kampfkünste zu praktizieren. Aber 1879 änderte sich alles, als die Meiji-Herrscher des japanischen Festlandes kamen und verlangten, dass das Ryukyu-Königreich
zur Präfektur Okinawa und damit ein Teil Japans wurde, anstatt irgendwelche Verbindungen zu China zu pflegen. Als das Ryukyu-Königreich fiel, wurde das Klassensystem abgeschafft.
Das führte zu 2000 aristokratischen Familien und 300 Herren, plus den König, die aus ihren schicken Villen und Burgen rausgeworfen und zum Leben auf dem Land gezwungen wurden, zusammen mit den Bäuerinnen und Bauern.
Und hier begann der Karate-Mythos.
All diese Leute, die aus der Kriegerkaste der Oberschicht übrig geblieben waren, verschwanden mit ihren Fähigkeiten und Talenten. Diese Leute mussten nun ihre alltäglichen Werkzeuge umgestalten für Waffen, deren Einsatz sie bereits erlernt hatten und ursprünglich aus China kamen. Wie das Nunchaku, das nichts anderes als ein Kriegsschläger ist. Es ist definitiv nicht für die Reisernte gemacht, was viele Leute fälschlicherweise denken. Oder nehmen wir die Sai, die tatsächlich von der Strafverfolgung in China genutzt wurde. Es war kein landwirtschaftliches Werkzeug. Und dasselbe gilt für das Tonfa, was viele Leute für den abgebrochenen Griff einer Mühle halten.
In Wirklichkeit waren diese Gegenstände bereits als chinesische Waffen bekannt. Die aristokratische Kriegerklasse wurde von Anfang an in der Benutzung dieser Waffen ausgebildet.
Viele Menschen glauben heute, dass sowohl die bewaffneten als auch die unbewaffneten Kampfkünste aus Okinawa kamen – von den Bauern. Obwohl sie eigentlich viel zu sehr damit beschäftigt waren zu überleben, als sich mit der Entwicklung hoch entwickelter Kampfkünste zu befassen. Leider hat sich dieser romantische Mythos der unterdrückten Bauern aus Okinawa bis heute stark gehalten und sogar verbreitet. Karate und Kobudo sind hoch entwickelte Systeme der Kampfkunst, was bedeutet, dass wir aufhören sollten, romantische Geschichten unterdrückter Bauern zu glauben. Lasst uns beginnen, die Fakten zu verstehen. Denn nur dann können wir die Unwissenheit durchdringen, die diese schöne Kunst umgeben.
Frei transkribiert, übersetzt und zusammengefasst von Stephan Rickauer. Original von Jesse Enkamp. https://www.youtube.com/watch?v=_EPp2VBdv3A